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Darum sind wir geflohen…

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Wie kommt jemand auf die Idee, mitsamt seiner Familie in einem überfüllten Boot unter denkbar schlechten Bedingungen die Fahrt über das Meer anzutreten? Oder einen riskanten und kräftezehrenden Fußmarsch auf sich zu nehmen, um sein Land zu verlassen?

Familie

Mouhammad, Ahlam und ihre Kinder leben unter ärmlichen Bedingungen im Libanon, aber immerhin sind sie sicher.

Stellst du den Menschen in Syrien diese Frage, variieren die Antworten zwischen Angst zu sterben, Angst, die Familie oder Freunde zu verlieren, Angst, verletzt, gefoltert oder verstümmelt zu werden. In einem Land, das als das gefährlichste der Welt gilt und in dem jeder ganz normale Tag hohe Risiken birgt, ist eine lebensgefährliche Flucht nur eine weitere Situation, die den Tod bringen kann. Aber vielleicht auch das Leben.

Bei meinem letzten Besuch im Libanon traf ich die 9-jährige Khulud, ihre Eltern und ihre sieben Geschwister. Die Familie lebte ursprünglich in dem Gouvernement Idleb im Nordwesten Syriens, eine der heute am stärksten zerstörten Gegenden des Landes. An dem Tag, an dem sie beschlossen, ihre Heimat so schnell wie möglich zu verlassen, war eine Bombe direkt vor ihrem Haus explodiert. Fünf Kinder, die dort gespielt hatten, waren getötet worden. „Es war furchtbar, wir kannten die Kinder alle“, sagt Khuluds Mutter Ahlam. „Immer wieder kam mir die Vorstellung, dass es auch meine eigenen hätten gewesen sein können.“

Khulud erinnert sich: „Meine Mutter sagte mir, dass ich wegschauen soll, aber ich sah meine Freunde in Stücke zerrissen. Da waren Arme und Beine, die zu keinem Körper mehr gehörten.“

Die Familie machte sich zu Fuß auf den Weg von Dorf zu Dorf, um ein neues Zuhause zu finden, über Straßen, die von bewaffneten Gruppen kontrolliert wurden. In manchen Dörfern gewährte man ihnen Unterschlupf, aber selten länger als drei Tage – zwei Erwachsene und acht Kinder waren nicht so einfach aufzunehmen. Die Reise sollte ein ganzes Jahr dauern. Khuluds Vater Mouhammad erzählt: „Wir hatten nicht viele Kleider dabei und im Winter war es furchtbar kalt. Die Kinder und auch meine Frau weinten, weil sie so froren. In manchen Nächten dachten wir, wir würden eher erfrieren als dass der Krieg uns töten würde. Oft hatten wir Hunger und an manchen Tagen aßen wir Gras und Blätter, an anderen gar nichts.“

Haus

Das Haus, in dem die Familie lebt, sieht aus, als würde es bald zusammenbrechen. Es gibt keine Türen, keine Fenster, kein Wasser und keine sanitären Anlagen.

Ahlam sagt: „Ich war so hilflos, wenn ich abends meine Kinder dabei betrachtete, wie sie mit ihren kleinen Gesichtern auf den eiskalten Steinen lagen und versuchten einzuschlafen. Immer wieder kamen mir die Tränen bei dem Gedanken, dass wir es nie wieder so gut haben würden wie früher.“

Vergeblich versuchte die Familie, ein neues Zuhause in Syrien zu finden, sodass sie sich schließlich dazu entschied, in den Libanon auszuwandern. Die Grenze war überfüllt mit Flüchtlingen, und so dauerte es drei Tage, bis die Familie Syrien verlassen konnte. Mouhammad, gelernter Bauarbeiter, hatte den Plan, dort einige Monate zu arbeiten und anschließend  nach Syrien zurückzukehren. Inzwischen sind aus den Monaten mehr als zwei Jahre geworden. Das Haus, in dem die Familie wohnt, sieht aus, als würde es jeden Moment zusammenbrechen; es fehlen Türen, Fenster, Wasseranschlüsse und sanitäre Einrichtungen.

Im Libanon gelten strenge Bedingungen für Syrer, die im Land bleiben möchten, und wie viele andere hat Mouhammad keine offizielle Genehmigung bekommen. Er kann seine Kinder somit auch nicht an der Schule anmelden. Khulud und ihre Geschwister arbeiten stattdessen auf den Feldern oder übernehmen andere Gelegenheitsjobs, um zum Familienunterhalt beizutragen.

Kinder

As Flüchtlinge dürfen die Kinder im Libanon nicht zur Schule gehen. Oft arbeiten sie auf den Feldern, um zum Familienhaushalt beizutragen.

Mouhammad sagt: „Wir haben vieles verloren, unser Haus, unsere Kleidung, Freunde und Nachbarn, aber am schlimmsten ist es, dass wir unsere Würde verloren haben.“

Als vor einigen Wochen in den weltweiten Zeitungen das Foto eines kleinen Flüchtlingsjungen erschien, der tot am Strand lag, war Mouhammad erschüttert. „Es wurde mir so deutlich, wie fragil das Leben meiner Kinder ist. Ihre Sicherheit ist mir das allerwichtigste.“

Ahlam wünschte sich, dass ihre Kinder irgendwann wieder zur Schule gehen können, damit sie später für sich sorgen können.  Auch Khulud träumt davon. „Ich möchte lernen, wie man einen Stift richtig hält und wie man seinen Namen schreibt. Später möchte ich Ärztin werden. Dann könnte ich meinen Freunden helfen, die vor unserem Haus in Syrien ihre Arme und Beine verloren haben.“


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